Frank, Sylvia: Nur einmal mit den Vögeln ziehn

Buntes Cover. Wolken Vögel, Fester, Mond. Feuerwerk im Nachthimmel. Ein Roman. Und ein Titel. Der Titel ist vor allem „hier“, aber vielleicht nicht nur hier bekannt. Die Melodie schwirrt sofort durch Kopf, am Stand des Mirabilis – Verlages bei Barbara Miklaw, dort in dem Palast, auf den Hängen über der Elbe… Dresden (er)lesen… Und beide verstanden wir das wortlos…

Es beginnt 1977 mit Jens, der ist damals zehn Jahre alt und kehrt die Treppe. Mann. Wie habe ich das gehasst, und natürlich keine 10 DM in der Tasche, wie der kleine Jens. Allerdings gabs dafür auch keine Quelle… zurück…

Anna Maria besitzt eine Rollfilmkamera. Das ist so ein schwarzer Kasten, wenn man den öffnet, klappt an einem Faltbalg wie bei einer Ziehharmonika das Objektiv nach vor. Die Kamera hat sie vom Großvater. Gibts das? So ein Ding war auch meine erste Kamera – auf so einen Schwarz-Weißfilm gingen zwölf Bilder, glaube ich.

Die Großmutter und der Großvater waren einst Landkaufhausbesitzer. Bis zur Enteignung, aber die Oma arbeitete weiter im ihr einst gehörenden Geschäft…

Der Zahnarztsohn Ivo ist 1977 dreizehn Jahre alt. Er soll heute Abend Klavier spielen im feinen Zwirn vor illustren Gästen. Dabei ist ist auch der Vorsitzende der Bezirksleitung der Partei… Aber ob jens so eine sozialistische Persönlichkeit werden wird?

Siv ist eine behütete Achtjährige, deren Eltern ihr zustimmen, dass der kleine Rabe, der aus dem Nest gepurzelt ist, gepflegt werden muss. Munin wird zu ihr halten und lebt wahrscheinlich immer noch dort am Weiher, wo immer Siv jetzt auch sein wird.

Das Erste, was wir dann 1982 von Aki hören, ist ein Klatschen. Das kommt von der Hand ihrer Mutter, die wissen will, wo die Zwölfjährige die verdammte Flasche versteckt hat. Das brennt auf der Wange…

1983 bekommt Jens eine Chance. Er könnte zum Sportklub Frankfurt / Oder gehen. Fußball. Armeesportklub. Das sind die in den braunen Trainingsanzügen mit den Gold roten Streifen an der Seite, wie noch einer in meinem Keller in einem grauen Seesack zu finden sein dürfte. Alles ist gut mit dem talentierten Tormann. Und dann? Der Arzt erklärt, dass er, wenn er denn ausgewachsen wird, zwei Zentimeter zu klein sein wird. Das wars…

In diesem Jahr haben Siv und Anna Maria Jugendweihe. Die Oma von Anna Maria hat immer noch Beziehungen. Stoff für das Kleid. Die Schneiderin hilft auch Siv…


Das sind sie, die Helden unserer Geschichte. Sie werden die Zeit bis 1990 unterschiedlich erleben. Erfolg und Niederlagen. Die mit Worten illustrierte Geschichte der letzten dreizehn Jahre der ostdeutschen Republik. Die zieht an mir vorüber und jedes Wort stimmt, auch wenn die Erlebnisse der langsam erwachsen Werdenden in der Masse nicht meine sind. Andere Familie, andere Überzeugungen, andere Geschichte…

Und doch… Wir erleben wie einer versucht, sich den Wehrdienst als Soldat mit den Spaten auf den grauen Schulterklappen durch eine Heirat und damit häufiger zu erwartenden Urlaub erträglich (?) zu machen versucht. Die 5000 Mark Ehekredit teilt er sich mit der zum Schein geheirateten Petra.

Der andere dient seine anderthalb Jahre an der Grenze. Sein Wehrdienst endet im Militärgefängnis, denn neben ihm erschießt der Kompaniechef den Freund, der gerade beschlossen hat, das Land zu verlassen… Der Weg aus dem Knast führt über ein bestimmtes Ministerium… Das gesteht er seiner Liebsten, als er sie an der Nikolaikirche trifft und aus der Absperrung bringt, zusammengeschlagen wie sie ist, sie wollte den friedlichen Protest („Keine Gewalt!“) fotografieren…

Eines der Mädchen findet ihren Weg in eine Jazzband, eine weitere erlebt in einer dafür bekannten Stadt eine Einrichtung namens Jugendwerkhof. (Eine ehemalige Klassenkameradin von mir war 40 Jahre nach ihrem Aufenthalt in einem solchen nicht zu bewegen, auch nur einige Erlebnisse wiederzugeben.)

So treiben wir auf die Jahre 1989 und 1990 zu, wir erleben zwei, die in der deutschen Botschaft in Prag einer in tosendem Jubel untergehenden Rede des bundesdeutschen Außenministers lauschen. (Ich kenne einen, dessen Frau und Tochter diesen Weg gingen…)

Und das Ende? Das Ende ist die überaus plötzliche Mittelung, dass die Geschichte im Frühjahr 2024 fortgesetzt werden soll. Sylvia Frank lässt uns einer chaotischen Welt kurz nach der Währungsunion zurück.


Dieses Buch schrieb ein AutorenpaarSylvia Vandermeer, geboren in Zeitz, und Frank Meierewert haben ihre Namen zusammengesetzt. Der Doktor, geboren in Brandenburg an der Havel, hat an der Filmhochschule in Wien studiert, die an der Wirtschaftsuniversität Wien habilitierte Professorin für Betriebswirtschaft arbeitet heute als Malerin und Autorin auf Rügen und in Wien, er als Drehbuchautor und Songschreiber. Seit dreißig Jahren schreiben sie zusammen. Und von denen habe ich noch nicht gehört?

Das ist mein erster Kontakt mit den beiden, die schon mehrere Bücher, gemeinsam und „getrennt“ veröffentlicht haben. Und nun dieses hier, erschienen im kleinen und unabhängigen Verlag Mirabilis. Und was für ein Buch. Klar, wieder bekam der Leser und Blogger eine DDR-Geschichte in die Hand, die eher nicht seine eigene ist. Ich betone und wiederhole das. Aber diesmal habe ich das Gefühl, dass die hier wirklich wahrhaftig ist. Sie stimmt. Von der Sprache, den Beschreibungen von Gegend und Menschen, auch wenn wieder mal kein sympathischer Kommunist mit ehrlichen Absichten drin vorkommt. Aber das ist mein Problem, es gab nämlich welche.

Nach den diesjährigen Diskussionen in den Feuilletons über das Thema, wer denn über dieses ostdeutsche Land schreiben darf, die ich so doof finde, also die Diskussion, las ich hier doch etwas Besonderes. Das bedeutet nicht, dass ich meine Meinung ändere. Und doch, dieses Buch erzählt unangestrengt über das Leben von fünf jungen Leuten, Kinder zu Beginn, und wertet nicht. Hier finden wir Schreiberfahrung und ruhige Erzählweise auch dort, wo es schlimm und traurig wird.

Es gibt sie schon, diese Bücher, deren Autoren Geschichte erzählen können.  So wie diese hier und die anderen beiden…

Unsere Erinnerungen bröckeln etwas, erklären die Autoren in dem kurzen Video unten, auch sie mussten sich manches „erst“ oder „wieder“ erzählen lassen.

Ich glaube weiterhin, dass unser Leben zwar von Braunkohlendunst und oft bröckelnden Fassaden, von Umweltverschmutzung und stinkenden Autos gezeichnet war, auch von einem Apparat, den so wie manche dieser Buchhelden zu spüren nicht zu meinen Erlebnissen zählte, aber auch bunt, freundschaftlich, liebevoll. Mit einer tollen Familie, Urlaub, Freunden, sportlich und musisch – aber auf der anderen Seite der DDR, die Seite, die für dieses Land da sein wollte.

Dazu gehört, dass, im Rückblick, der Verfasser dieser Zeilen wieder einmal sehr froh ist, dass er während seines Wehrdienstes an der innerdeutschen Grenze nie in Situationen kam, die das ganze weitere, inzwischen mehr als dreißig Jahre dauernde Leben im vereinigten Deutschland auf schlimme Art hätten beeinflussen können. Und der inzwischen eine gewisse Dankbarkeit empfindet, dass diese Republik geneigt war, ihn mitzunehmen.

Nur einmal mit den Vögeln ziehn – das gilt so sehr für die Antihelden des Romans, und Tamara und ihr Lied werden nicht ein einziges Mal erwähnt…


Vielen Dank, lieber Barbara für das Rezensionsexemplar.

© Bücherjunge

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