Gneuß, Charlotte: Gittersee

Diesmal ist es kein Dresdner Autor oder Autorin, kein Dresdner oder sächsischer Verlag, aber Dresden ist es schon, denn Gittersee ist eine Gemeinde am Rand auf der südlichen Höhe. Ein schlagartig bekannt gewordenes Buch…

Die Geschichte: 1976. Dresden – Zschertnitz.. Wohnorts unserer Familie. Am Ende des Jahres werde ich dreizehn Jahre alt sein. Ein Schuljunge, der zweimal in der Woche zum Fechttraining geht und im Schulchor singt. Siebente Klasse. 

Siebenundvierzig Jahre später wird Charlotte Gneuß im Fischer-Verlag einen Roman herausbringen. Gittersee. Nicht weit weg gelegen von Zschertnitz. Auf der Höhe im Süden Dresdens, bekannt durch einen berühmten Bergbaubetrieb, die Wismut AG. Heldin des Romans ist die 16jährige Karin, die dort im Haus der Oma mit ihren desillusionierten Eltern und der kleinen geliebten Schwester lebt. Karin geht in eine ganz normale Schule, eine polytechnische Oberschule. Karin lebt zwischen Familie und den Schulfreundinnen, viel los scheint da nicht zu sein, wenigstens ist da Paul , den sie liebt.

Eines Tages möchte er sie mit auf einen Ausflug nehmen, einen Ausflug ohne Wiederkehr. Doch Karin erscheint nicht am Treffpunkt und dann ist Paul weg, auch dessen Freund Rühle weiß nicht viel davon. Als zwei Mitarbeiter der Stasi, des Ministeriums für Staatssicherheit, auftauchen, und Karin mitnehmen, ein paar Stunden festsetzen und befragen, wird schnell klar, es geht um den § 213 des Strafgesetzbuches der DDR. Der beinhaltet den „ungesetzlichen Grenzübertritt“ kurz „Republikflucht“ genannt. Wo ist dieser Paul?

Karin steht unter dem Verdacht der Mitwisserschaft, da hat es ein gewisser Wickwalz nicht übermäßig schwer, sie eine „Verpflichtungserklärung“ unterschreiben zu lassen. Und Karin erzählt. Zum Beispiel über Marie, ihre Freundin, die in letzter Zeit so viel mit Marlene rumhängt und tuschelt…

Marie hat einen Vater, aber das soll keiner wissen, denn der lebt im Westen. Marie bittet ihn, dort nach Paul zu forschen…

Das Ende: Ich gehe davon aus, dass Karin spätestens drei Wochen nach Ende des Romans festgenommen und zu einer sehr langen Freiheitsstrafe verurteilt werden wird. Abzusitzen auf Hoheneck. Eine Freiheitsstrafe, die um 1990 nicht einfach beendet sein wird.


Bis dahin ist es ein Roman, der eine Welt widerspiegelt, die der oben erwähnte Zwölfjährige nicht so sehr nachvollziehen kann, der heute fast Sechzigjährige dann schon eher. Diese Karin hat einen Ton drauf, der passt. Leicht schnoddrig, kurz angebunden, äußerst kurz gefasste Sätze, manchmal nur Wortgruppen. Das dient der Beschreibung des Schulalltags, Sprache, „Ton“, Satzbau ändern sich, wenn es um Freunde und Familie geht.

Klar, da spielen Dinge ein Rolle, die auch der damals zwölfjährige Thälmann-Pionier kennt. Die Schulhofappelle, mit den Kinder in den weißen Blusen, den blauen und roten Halstüchern und die Älteren in den blauen Hemden mit der goldenen Sonne am Ärmel. Das helle „Seid bereit! – Immer bereit!“ Und das dunkle, bewusst gebrummte „Freundschaft!“  – Später dann der sogenannte Wehrunterricht, die Gesellschaft für Sport und Technik, das begann etwas später, die Vorboten waren 1976 für die älteren Schülerinnen und Schüler wie diese Karin bemerkbar. (Den ersten mehrtägigen Wehrunterricht in GST-Uniformen hatte unser Schuljahrgang – 1970 – 1980) Was wir nicht wissen, wie die Eltern der Autorin ihre eigene Schulzeit und ihrer Lehrer reflektierten – ich habe ein ganze Menge gute Erinnerungen an (nicht alle) Lehrerinnen und Lehrer, was meine jüngeren Geschwister, die teilweise bei denselben Lehrern lernten, bestätigen.

Insgesamt kann ich das trotz anderer Erlebnisse ganz gut nachvollziehen. Es ist ein Roman und darin wird eine Geschichte erzählt, eine sicher glaubwürdige Geschichte, aber nicht DIE Geschichte oder die DDR-Geschichte. Die Schilderungen, über die Begegnungen mit der Staatssicherheit der Erzählerin Karin kann weder ich noch die Autorin Charlotte Gneuß aus eigenen Erleben wiedergeben, es scheint, so weit man sich das anlesen oder erzählen lassen kann, so gewesen zu sein. 

Verblüffend ist dabei die vermeintlich oder tatsächliche Anteilnahme des Führungsoffiziers der IM-Karin, was deren Familie betrifft. Das scheint nicht nur die auch psychologische Beeinflussung der jungen Frau, um der Informationen willen, zu sein, ist da ein wenig Einfühlung dabei? Karin lässt sich darauf ein und fühlt sich doch immer eingehängter. Eine Art Erwachen, als sie merkt dass ihre Einlassungen ihrer Freundin Marie augenscheinlich schaden…

Zerrüttete Familien kann man überall finden. Die Geschichten um diese finden sich in einer großen Zahl von Romanen, Erzählungen, Filmdramen und Serien. Da ist die eher streng und hart auftretenden Großmutter, deren „Karriere“ als Nachrichtenhelferin, „Blitzmädel“ genannt, manchmal durchbricht, während der bereits verstorbene Großvater sich mit den Nationalsozialisten nicht gleichermaßen gemein machte. Die Mutter, die aus der Familie flüchtet, die Ehe hält eben nicht – gut beschrieben im Tonfall der sechzehnjährigen Tochter. Und da ist die „Kleine“. 

„Es waren warme Tage. Wir liefen mit nackten Füßen. Unsere Sohlen klatschten auf die Steinplatten und verbrannten sich am heißen Teer. Ich stellte die Zinkbadewanne in den Hof, setzte die Kleine hinein und sagte mit meiner tiefen Stimme, ich hab gefischt, ich hab gefischt und habe keinen Fisch erwischt, nur dich. Dann kitzelte ich die Kleine, bis sie vor lauter Glück gluckste.“ (Seite 99)

So lesen wir von Normalitäten, Lebensdingen, schönen Dingen, die es überall auf der Welt gibt. Dies findet sich bei einem Kletterausflug mit Paul und Rühle in die sächsische Schweiz:

Sie erzählt, wie sie die Schwalben am Hauptbahnhof stehen lassen und es scheint als würden sie nun tagelang sich quer durch das Elbsandsteingebirge klettern. Wer das einmal nur mitgemacht hat, der versteht die Faszination.

C. Gneuß – privat

„Ich stellte den rechten Fuß gegen die Wand, stemmte mich damit nach oben, fasste mit der linken in die Wölbung, gab mir einen Ruck, griff mit der rechten nach einer kleinen Kuhle, streckte die Beine, griff mit der linken den nächsthöheren Griff, zog wieder die Beine nach, streckte sie durch und war schnell am ersten Ring….

Als ich die Kante erreichte, schmerzten mir die Finger. Doch der Schmerz war klein gegen das Gefühl der Weite. Über den Bäumen, über die Erde. Luft, so viel Luft. Und Lust, so viel Lust. Auch Lust zu springen…

Mein Körper war übersät mit Schürfwunden, ich fand, sie standen mir wie Schmuck. Mochten die Muskeln auch schreien, die Muskeln waren dumm. Sie wussten nicht, , dass der Schmerz vergeht und die Stärke bleibt. Ich liebte den Schmerz in den Muskeln, den müden Körper am Abend, den Geruch von Schweiß und Sand und Erde, den mit hellen Kiefernnadeln übersäten Waldboden, die Blaubeerbüsche am Wegesrand, die buckeligen Kiefern in der Höhe mit ihrer harten Rinde, die schmalen Birken mit ihrer dünnen Haut. Die Salamander, die sich auf dem Fels sonnten. Die Vögel, die unter mir durch die Täler jagten. Fortsteigen, hinaufsteigen, hinübersteigen, übersteigen und – Stille“ (Seiten 182 – 184)

Erinnerungen werden da wach, eigene Erinnerungen und vorstellbar das Bad in der Elbe, in der man oberhalb von Heidenau noch am ehesten (kurz) baden ging – und zu Hause in die Wanne, so man eine hatte in Dresden der damaligen Zeit.

Charlotte Gneuß kann schreiben. Sie kann mit unterschiedlichen Stilmitteln das jeweilig gemeinte speziell ausdrücken. Jeder Ort scheint seinen Stil zu haben. Schule, Familie, Paul, die Freundin und die Stasi. 

Diese Zeilen sind sicher nicht die Hauptaussage des Romans, der ein überraschendes, ein unnachgiebiges und endgültiges Ende nimmt. Das Ende ist eigentlich kaum vorstellbar – Aber wir lesen einen Roman…

Blick aus der Gemarkung Gittersee auf Dresden / © Bücherjunge

Die Mängelliste: Der Roman ist das Debüt von Charlotte Gneuß. Als solches geriet er auf die Longlist (20 Bücher)  für den diesjährigen Deutschen Buchpreis. Auf die Shortlist (6 Bücher) schaffte es der Roman nicht. Zwischenzeitlich schrieben die Feuilletonisten sich die Finger wund von einer Mängelliste. Diese hat im Auftrag des Verlages ein anderer Autor verfasst und dann an den Verlag und die Autorin geschickt. Das ist wohl durchaus Praxis in Verlagen. Warum auch nicht. Zum Beispiel, wenn Lektor oder Lektorin eine bestimmte Sicht oder Kenntnisse nicht haben. So zum Beispiel die Sicht einer sechzehnjährigen Schülerin in Dresden – Gittersee in der Mitte der 70er.

Einiges soll berichtigt wurden sein, aber die Liste geriet in die Hände der Jury für den Deutschen Buchpreis. Keiner kann sagen, ob die Entscheidung, den Roman nicht auf die Shortlist zu setzen, damit beeinflusst wurde. Schlimm genug, dass es sein könnte, außerdem finde ich das unkollegial und unprofessionell.

Diskutiert wurde: „in der Elbe baden“, das Wort „lecker“ zur Beschreibung der Speisen, und einiger Unsinn mehr. Zum Beispiel der Begriff „Jahresendfeier“ und die Lieder dazu. 

Hier nun setze ich an, obwohl es mir etwas widerstrebt, in den Kanon einzustimmen, wir werden aber sehen, dass der Ansatz anders ist.

„Jahresendfeier“ kenne ich nicht. „Jahresendflügelfigur“ für die Weihnachtsengel aus dem Erzgebirge kenne ich als humorig-“atheistische“ Beschreibung schon. Es soll auch mal über den Preisschildern gestanden haben. Aber, siehe oben, wir sangen mit dem Schulchor in einem Altersheim Weihnachtslieder. Nicht unbedingt „Stille Nacht“ und die anderen direkt-christlichen Lieder, es gibt aber so viele andere. Was wir nicht sangen aus weihnachtlichem Anlass war „Völker hört die Signale“. Wer hat das der Autorin vermittelt? Und wer hat das anstandslos stehen lassen?

Ich erinnere mich, dass wir uns, wenn auch Jahre später, nach einer Klettertour in der Elbe den Schweiß abspülten, bevor wir die Fähre für die Rückfahrt bei Rathen bestiegen. (Da war die Elbe im Gegensatz zu heute immer noch gewaltig „drecksch“)

An einer Stelle erklärt Marlene, sie hätte jetzt einen „vom Grenzschutz, der ab und zu mal rüber durfte“: So plump hätte das dümmste Schulmädchen nicht gelogen, auch ist „Grenzschutz“ ein eher westdeutscher Begriff. In Sachsen sprach man von den Grenztruppen, den Grenzern oder vom „Kanten“ oder still von den „Mauerschützen“ (Oder war das doch erst ab 1989?). 

Charlotte Gneuß beschreibt den Schulalltag mit den Schulhofappellen schon richtig. Aber wieso lässt sie die Schulsekretärin die zehnte (!) Klasse betreten und „für Frieden und Sozialismus – Seid bereit“ rufen? So begann der Tag in den unteren Klassen, aber nicht jede Schulstunde. 

Der Schulleiter hieß im DDR-Bildungssystem Direktor und nicht Rektor, also gab es kein Rektorat, es war meist vom Sekretariat die Rede, denn dort „residierte“ die Schulsekretärin, unter anderem das Essen- und Milchgeld kassierend. Und in der zehnten Klasse trug keiner einen Ranzen wie die Kleinen auf dem Rücken.

Ist das albern? Teilweise schon. Und Lesern aus eher westlich gelegenen Bundesländern fällt das mit den sozialistischen Grußformeln vielleicht gar nicht auf.  Da findet man eher den rumbrüllenden, aus dem Militär stammenden Sportlehrer, den gab´s sicher auch dort. 

Aber hiesigen Leserinnen und Lesern mit „Eigenerfahrung“ fällt das schon auf. Und ich finde, das Lektorat hätte solche Brüche merken können. Wenn ich es schlimmer ausdrücken wollte, dann würde ich es „Schlamperei“ oder „Schluderei“ nennen. Vermeidbar. Darum gibt es ja Lektorinnen und Lektoren. Gerade, wenn die Autorin aus dem Hörensagen oder aus Angelesenem erzählt. In diesen Zeiten sollte außerdem auf die viel diskutierten Empfindlichkeiten in Rezeption und „Deutungshoheit“ geachtet werden, die „Mängeldiskussion“ lenkt vom eigentlichen Romangeschehen viel zu sehr ab.


In dies Diskussion, wer über noch nicht allzu fern zurückliegende Geschichte schreiben darf, mag ich nicht groß einsteigen. Es darf jeder. Und Charlotte Gneuß hat ihre Recherchen und die Erzählungen von Eltern und Großeltern, denen sie ausdrücklich dafür dankt, zu einem spannenden und interessant gesponnenen Roman zusammen gefügt. Mit gerade mal 31 Jahren kann sie sich ihre Karin gut vorstellen. Die personale Erzählerin erscheint glaubwürdig. Es ist ein gutes Buch. Die Macken ändern daran nichts. Ihre Vermeidung hätte die Gespräche, das Feuilleton mehr auf den Inhalt gelenkt. 


13. Oktober 2023: Der „aspekte“ Literaturpreis geht an Charlotte Gneuß. Der mit 10000  dotierte Preis ist für das beste literarische Prosa-Debüt des Jahres vorgesehen. Die Preisverleihung findet dann auf der Frankfurter Buchmesse statt.

In der Jury-Begründung heißt es: „Charlotte Gneuß gelingt es, in ihrem Debütroman Gittersee einen Moment der deutschen Geschichte lebendig und spürbar zu machen, den sie selbst nie erlebt hat. Sie erzählt die Geschichte einer 16-Jährigen, die im Dresden der 70er Jahre schuldig wird. Mit literarischen Mitteln öffnet Charlotte Gneuß einen fiktionalen Raum, der uns mitnimmt in eine Zeit und ein System, in denen die Fragen nach Verantwortung, Freiheit und Vertrauen komplexe Antworten erforderten.”

Es ist doch zu hoffen, dass doch nicht jedes Buch, welches in dien „speziellen Ost/West-Focus“ gerät, am Ende ohne Ehren bleibt. Das freut mich für Charlotte Gneuß.


  • DNB / S. Fischer-Verlag / Frankfurt am Main 2023 / ISBN: 978-3-10-397088-3 / 236 Seiten
  • Kletterfoto: freundlich zur Verfügung gestellt von der Autorin. Vielen Dank.

© Der Bücherjunge (20.10.2023)

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