Mohr, Francis: Hotel A_TORIA

Links das ASTORIA – Rechts das andere*

Ein Dresdner Autor: Francis Mohr. Ein Dresdner Hotel: Das Astoria. Dachte ich. Aber Mohr ist ja Leipziger und während das Astoria am Strehlener Platz durch einen Lidl ersetzt wurde, steht das A_TORIA links neben Leipzigs Hauptbahnhof immer noch. Es war und ist ein Wahrzeichen von Leipzig. Schön sieht er nicht aus, dieses 1915 eröffnete, bis 1996 in Betrieb befindliche riesige Bau. Seit dem siecht es dahin. Davon erzählt die Titelgeschichte in der Mitte des Büchleins.

Im ersten Teil, Mohr hat ihn MELANGE genannt, findet die Leserin, der Leser eine Reihe unterschiedlichster Geschichten. In PANINI lachen wir über ein Familienalbum der anderen Art, wenn der Papa seinen Kindern ein Album mit den Mannschaften der Fußball-EM kauft, und darüber sitzen bleibt, lange nachdenkend, wie man die das Album vervollständigt.

Wie schwer es ist, im Schatten der großen Ketten A, T & H (zum Beispiel) eine kleine lauschige Buchhandlung zu eröffnen, und leider zu scheitern, davon lesen wir in PATZEBURG.

Einen PLÜSCHTIGER hält Norman in der Hand, er hat ihn seiner Tochter nicht schenken können. Unten findet sich eine Leseprobe.

DIE LETZTE MESSE, nein nicht der Leipziger, sondern die eines Pfarrer und das Verhalten seiner Gemeinde während der Erstkommunion

Warum können Kinder nicht mehr allein zur Schule gehen? Was denkt der Autor über Salat-Fanatiker? Was macht ein Taxifahrer mit EINER PISTOLE IM NACKEN?

Erschütternd, die Geschichte über die LÄUSEFÜTTERER, in der eine Gruppe augenscheinlicher Professoren und Hochschullehrer über höhere Mathematik unterhalten, während sie warten. Sie warten darauf das die Läuse satt werden, so lässt sich ein wichtiges Serum herstellen. Wahr oder fiktiv? Auf jeden Fall denkbar in Lemberg im Jahr 1941.

Hat bisher irgendein Autor ein Buch oder zumindest ein Kapitel so benannt: NICHT ALLES WAR SCHLECHT – VERSÖHNLICHES AUS DEM OSTEN? Nein? Dann hat es zumindest jetzt einer getan. In diesem Kapitel lernt man was über die Bedeutung von Mercedessternen und Autogrammen bundesdeutscher Fußballer vor 1990 und vieles mehr, was sich nur jemand vorstellen kann, der in den Siebzigern und Achtzigern des letzten Jahrhunderts Kind und Jugendlicher war. Weniger versöhnlich dürfte allerdings die Geschichte über ein Silvester bei der NVA gemeint gewesen sein.

Wer ihn noch nicht kennt, lernt im letzten Kapitel den Herrn Kommissar Kafka und diverse Leute kennen, die immer Knödel heißen. Kafka – Prag – Knödel? Eher weniger. Über Kafka und Knödel findet man noch mehr unter dem Label ZWIEBOOK bei salomo publishers. Ob Kafka mit dem ehemaligen Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei grillt und plaudert, einen Kongress besucht oder Schuhe kauft, die Figur gefällt mir sehr. Man muss sich etwas ran tasten. Es ist ja auch nicht so, dass die Geschichten schwer verdaulich sind wie die von dem Kafka aus Prag.

Erzählungen. Geschichten. Solche Sachen lese ich eher selten. Aber die hier haben mit (nicht alle(!) durchaus gefallen. Schöne Lektüre nicht nur, wenn man wenig Zeit für dicke Bücher hat.

 

Kleine Leseprobe: PLÜSCHTIGER*

Er kam wieso oft – zu spät. Als er auf den Klingelknopf drückte, waren es genau sechsundzwanzig Minuten nach der Zeit. Vierzehn Uhr war vereinbart gewesen und nun war wiederholt nicht pünktlich. Aber er hoffte auf einen fairen Ausgang.
Sie öffnete die Tür, stellte sich mit verschränkten Armen in den Rahmen und schüttelte den Kopf. „Du weißt schon, wie spät es ist?“
„Ja Cordelia. Es tut mir leid.“
„Es ist immer das Gleiche. Man kann sich nicht auf dich verlassen. Und wie du aussiehst!“
Cordelia zeigte auf seine linke Augenbraue, die angeschwollen war. Er hatte sich alle Mühe gegeben, einigermaßen normal auszusehen. Heute hatte er einen Urlaubstag und seit dem Morgen in der Arztpraxis gesessen. Vier Stunden musste er warten, bis man ihn untersuchte. Die Aufnahmeschwester hatte mitleidig, fast abfällig aufgeschaut, als er die Chipkarte über den Tresen schob. Der Arzt war schnell mit den Diagnosen. Er hätte kein Fieber und es wäre nichts gebrochen. Das Hämatom am Auge reiche für die wohl von ihm erhoffte Krankschreibung nicht aus.
Norman verteidigte sich, dass er auf keine Krankschreibung spekuliert habe. Der Arzt chmunzelte jedoch nur abschätzig und verschrieb ihm eine Salbe zur Kühlung.
Cordelia blieb im Türrahmen stehen und machte keine Anstalten, ihn hereinzubitten.
„Es war quasi ein Arbeitsunfall“, entgegnete er.
„Aha. Ich sage dir, es berührt mich nicht. Mich interessiert lediglich, wieso du nicht pünktlich bist. Und…“
Sie machte eine Pause.
„Was – und?“, fragte er.
„Mirjam ist nicht mehr da. Sie hat bis vor wenigen Minuten auf dich gewartet. Punkt.“
Norman wusste, dass Mirjam noch da war, womöglich in ihrem Kinderzimmer vor dem kleinen Fernseher saß. Es wäre ein Leichtes fiir Cordelia gewesen, nachsichtig zu sein. Doch es war nicht das erste Mal, dass sie ihn abblitzen ließ. Sie war im Recht und er hatte keine Kraft, zu betteln oder mit ihr zu streiten.
,,Kannst du mir bitte noch bestätigen, wann du geklingelt hast?“
Sie reichte ihm ein Heft, in dem alle Besuchstermine notiert waren. Er kritzelte die aktuelle Zeit und die Unterschrift daneben und wusste, dass er schon ,ivieder auf der Verliererseite stand. „Nächstes Mal bin ich eher da.“ „Eher? Das schaffst du nie. Ich werde das Jugendamt informieren.“
Sie schlug die Tür zu und Norman steig die Stufen hinab.

Daheim brühte er sich einen Pott Kaffee auf und setzte sich vor den Computer. Er checkte die Nachrichten und die Berichte in den Netzwerken. Die Parolen vom Vortag wurden wiederholt. Schulter an Schulter hatten Norman und seine Kollegen gestern Abend gestanden. ,,Bullenschweine! … Offensive! … Bullenschweine! … Fuck the System!“, brüllte man ihnen entgegen. Eine Rauchbombe war vor ihnen explodiert und raubte ihnen die Luft unterm Helm. Für einen Moment hatte er das Visier hochgeklappt, um atmen zu können. Doch er kam nicht dazu, denn ein Stein traf ihn im Gesicht. Norman ging sofort zu Boden.
Die Politiker machten ihn und seine Kollegen für das Chaos am Abend verantwortlich. Es war einer der Tage, wie sie sich seit Monaten für ihn wiederholten. Dem Gesetz der Serie folgend. Er stand – wie immer – dazwischen. Aber er hatte sich so entschieden. Dafür kassierte er seine Kohle.
Er knipste den Computer aus und legte sich auf die Couch. In der Linken hielt er den kleinen Plüschtiger für Mirjam, den er ihr hatte schenken wollen, und schaute in dessen braune Knopfaugen.

* mit freundlicher Genehmigung von Francis Mohr und Katharina Salomo (Salomo Publishing)

  • DNB / salomo publishing – Zwiebook / Dresden 2018 / ISBN: 978-3-943451-38-2 / 173 Seiten
  • Von Franzis Mohr auf Litterae-Artesque: FLASHBACK OST
  • auf Litterae-Artesque veröffentlicht am 04.02.2019

© Der Bücherjunge

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